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Random Encounters: Kindness Coins

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Man kann gar nicht oft genug darauf hinweisen, wie verquer unsere Vorstellung von Romantik bisweilen ist und wie oft gängige Missverständnisse unhinterfragt weitergetragen werden – insbesondere in Videospielen. Rette ich die Prinzessin, schenkt sie mir ihr Herz. Bin ich freundlich und interessiert, ist das der sichere Weg zur Partnerschaft. Kurzum: Füttere ich einen Menschen mit Kindness Coins, purzelt Zuneigung exakt so verlässlich aus ihm heraus wie der Schokoriegel aus dem Süßigkeitenautomaten.

Sich diesem Problem ausgerechnet durch eine Dating-Sim anzunähern, erscheint eigenwillig, ist doch gerade dieses Genre berühmt-berüchtigt für seine einseitige Darstellung von Zwischenmenschlichkeit. Arden Kehoe allerdings, selbst glühender Fan entsprechender Spiele, dekonstruiert deren Grundprinzipien sehr effektiv durch eine simple Entscheidung: Die Hauptfigur von Kindness Coins ist kein schüchterner, junger Mann, der auszieht, seine große Liebe zu finden – sondern seine große Liebe.

Das Objekt wird so zum Subjekt. Florence, jene gehörnte Angebetete, verleiht gleich zu Beginn ihrer Irritation darüber Ausdruck, dass ihr männlicher Counterpart sich seltsam zu verhalten und überall dort aufzutauchen scheint, wo sie sich aufhält. Dass er sogar dem Uni-Musikklub beigetreten ist, obwohl er offensichtlich noch nie ein Instrument in den Händen gehalten hat. Dass er immer, wirklich immer freundlich und zuvorkommend ist.

Florence indes, so zeigt sich, hat ganz eigene Interessen und Hoodieträger John ist keines davon, so sehr er sich auch bemüht. Als die beiden dann auf einer Party aufeinandertreffen und sich der mit mangelnder Zuneigung Gestrafte ausgiebig über diese Ungerechtigkeit auslässt, hält ihm die Holde eine Standpauke, die sich gewaschen hat und sehr prägnant zusammenfasst, weshalb die Menschen-Automaten-Analogie nicht aufgehen kann.

Dass die wenigen, frei wählbaren Antworten keinerlei Einfluss auf den Fortschritt der Geschichte nehmen, mag zunächst ernüchtern und dem Zeitdruck des Game Jams geschuldet sein, für den das Spiel entwickelt wurde; tatsächlich ergibt diese Einschränkung jedoch auch inhaltlich Sinn, denn sie unterstreicht, dass wir nicht immer die volle Kontrolle über uns selbst haben. Und mehr noch, dass wir uns nicht aussuchen können, wen wir lieben, und wen nicht. Damit muss sich schließlich auch John arrangieren, der jedoch bewusst nicht als gekränkter Pick-Up-Artist dargestellt wird. Menschen, so schreibt Kehoe, könnten sich ändern und es sei wichtig, ihnen diese Möglichkeit zuzugestehen. Die “nice guys” dieser Welt zu verteufeln, wäre schon deshalb ein Fehler. Ebenso wichtig ist es, die Auswirkungen gesellschaftlicher Einflüsse und mit ihnen anzuerkennen, dass manch ein Dating-Sim-Protagonist in spe entsprechend handelt, weil er es einfach nicht besser weiß.

Kindness Coins leistet ungeachtet seiner kurzen Dauer von maximal zehn Minuten einen sehr einfühlsamen und humorvollen Beitrag zu dem andauernden Diskurs über menschliche Zweisamkeit. Aus der Kombination von wohl durchdachten Texten und den ausdrucksstarken Illustrationen erwachsen sympathische Charaktere, die man gerne länger durch ihren Alltag begleiten würde. Ganz ohne Hintergedanken, ohne ein klares Ziel vor Augen zu haben. Einfach nur aufgrund des aufrichtigen Interesses an ihrer Persönlichkeit. Diesen Wunsch zu wecken, ist die besondere Stärke des Spiels.

Was Frauen wollen: She Might Think

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Die Frau: Als gebürtige Venusianerin ist ihr die irdische Kunst des Einparkens fremd. Stets stopft sie nur Beilagensalat oder fettreduzierten Joghurt in ihr Lästermaul, denkt derweil insgeheim an Süßigkeiten und danach, weinend, an ihre verlorene Jugend. Trost findet sie allein im exzessiven Erwerb von Schuhen oder Taschen, wenn ihr Freund wieder auswärts Fußball schaut, anstatt ihr Daheim zum fünfzigsten Mal augenrollend die Abseitsregel zu erklären. Oder wenn er sie nicht versteht, weil sie – dieses irrationale Emotionsbündel – in Rätseln spricht. Kennste, kennste, kennste.

Im Jahr 2015 scheint immer noch nicht geläufig zu sein, dass weder das weibliche noch das männliche Geschlecht eine homogene Masse mit Kollektivbewusstsein ist. Diesem Unwissen wollen Marion Esquian und Ludivine Berthouloux mit She Might Think etwas entgegensetzen: Echte Stellungnahmen von Frauen. Jene sechs Figuren nämlich, die im Spiel eine Wohnung besichtigen, sind allesamt Freundinnen der beiden Entwicklerinnen oder ihnen selbst nachempfunden.

Die Interaktion mit den Charakteren beziehungsweise deren Umfeld ist auf wenige Gegenstände beschränkt, die über das gesamte Appartment verteilt sind – darunter ein Fußball, eine Konsole, Bierflaschen und hochhackige Schuhe. Klickt man diese an, beziehen die Mieterinnen in spe individuell Stellung dazu, schwärmen hier von Strandspaziergängen und Make-Up oder blicken dort despektierlich in die Küche, auf das Diätbuch im Schrank und das schmutzige Geschirr in der Spüle.

Die Reaktionen werden dabei nicht bewertet, nicht explizit als valide oder deplatziert dargestellt. Jede Einschätzung hat ihre Daseinsberechtigung und setzt sich im Gesamtkontext zu einem bunten, bisweilen wirren Puzzle zusammen. Aber genau darum geht es: Menschen sind gelegentlich undurchschaubar, vertreten eigenwillige oder sogar widersprüchliche Ansichten. Nur deshalb ist der Prozess des Kennenlernens immer wieder so interessant, offenbart er doch Stück für Stück eine individuelle Persönlichkeit. Die wiederum manifestiert sich auch in den Bewegungsanimationen der Figuren und der von Person zu Person wechselnden Hintergrundmusik.

Während der Gang durch die Wohnung kurz und unkompliziert ausfällt, ist hier viel Liebe zum Detail erkennbar, durch die dem Spiel mehr Tiefe verliehen wird. Weil sich Geschlechterklischees gerade in unserem Medium relativ beharrlich halten, gelingt es dem „A Game By Its Cover“-Jambeitrag so trotz seiner Einfachheit, überzeugendere Identifikationsfiguren zu präsentieren als manch ein mit jahrelangem Feinschliff aufwartender Open-World-Titel. She Might Think zeigt, wie viel Recherche und Einfühlungsvermögen bewirken können. Und wie viel schöner es in Wirklichkeit ist, sich mit einem Menschen zu befassen, anstatt ihn unter einem Berg von Etiketten zu begraben – und nie wirklich ergründen zu können.

Random Encounters: Striptease

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Als kürzlich ein Saunaclub meine gesamte Nachbarschaft mit riesigen Werbeplakaten volltapezierte und „eine große Auswahl heißer Girls“ versprach, verlieh eine anonyme Person ihrem Ärger darüber Ausdruck, indem sie auf jedes einzelne davon eine Notiz mit folgenden, großgedruckten Worten klebte: „Wir Frauen sind keine Ware“. Doch in der allgemeinen Wahrnehmung werden Sexualdienstleisterinnen allzu häufig mit Objekten gleichgesetzt, das gilt insbesondere für Stripperinnen.

Das 2009 von Stephen-„Increpare“-Lavelle veröffentlichte Spiel Striptease bezieht sich auf diese Problematik und mag nach sechs Jahren sicherlich nicht mehr als neu gelten, an seiner Aktualität aber hat sich nichts geändert. Lavelle bedient sich einer simplen Spielmechanik, um sehr eindringlich Stellung zum Thema zu beziehen, während durch Texte vermittelte Informationen in den Hintergrund treten. In einem kleinen, rechteckigen Fenster ist eine kantige Frau abgebildet, links daneben die gleiche Figur in fragmentierter Form.

Per Tastendruck müssen sämtliche Puzzleteile und mit ihnen jene Frau in vorgegebener Reihenfolge wieder zusammengesetzt werden. Der Fokus liegt dabei auf einzelnen Körperpartien: Der Brust, dem linken Arm, der Hüfte. Fügt man den falschen Teil zusammen, wird man mit Punktabzug bestraft; folgt man hingegen den Vorgaben, entledigt sich die Stripperin mit jedem rekonstruierten Part des Kleidungsstücks, das ihn zuvor bedeckt hat. Am Ende ist sie in beiden Fenstern nackt und vollständig zu sehen. Dennoch erscheint sie nicht mehr als Person, als menschliches Ganzes, sondern als Zusammenstellung von kleinen Teilen, die hinsichtlich ihres erotischen Ausdrucks zu bewerten sind. Sie wird objektifiziert.

Dass nicht die eigentliche Dienstleistung des Strippens, sondern die allzu oft damit verknüpfte Dehumanisierung das Problem ist, legt Striptease nachfolgend dar. Während in den ersten beiden Leveln, untermalt von fiepsender Videospielmusik der titelgebende Akt vollzogen wird, nimmt das Spiel gleich darauf eine drastische Wendung. Denn die Protagonistin wird, vor der Tür des Clubs auf eine Kollegin wartend, von einem Kunden belästigt und schließlich vergewaltigt.

Im dritten und letzten Level gilt es erneut, die nun mit Wunden und Flecken übersähte Frau zusammenzusetzen – diesmal aber ist sie gleich zu Beginn nackt und zieht sich, Teilchen für Teilchen, wieder an, bedeckt sich mit einem dicken Pullover und einer langen Hose. Der ursprünglich zum Aufbau sexueller Spannung genutzte Prozess des Puzzelns erhält damit eine ganz neue Konnotation, und wer vorher in der Rolle des Voyeurs den nackten Körper der jungen Frau genoss, wird nun versuchen, ihn schnellstmöglich zu verdecken. Vielleicht aus Mitleid. Vielleicht, um mit den Spuren der Tat auch die Tat selbst zu vertuschen.

“Wir Frauen sind keine Ware”
. Nach etwa einer Woche waren die Zettel mitsamt der Ursache des Anstoßes wieder verschwunden und an ihre Stelle trat Werbung für Orangensaft, Mobiltelefone, Urlaubsreisen. Ob die Urheberin der Notizen jemandem zum Umdenken bewegt hat, werde ich wohl nie erfahren – ebenso wenig, ob der Italiener, der auf Lavelles Homepage den Kommentar “Hi, we want more girls ;-)” hinterließ, späterhin seinen Fehler bemerkte.

Das Opfer ist niemals der Täter: Freshman Year

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Du kannst etwas dafür tun, du kannst etwas dagegen tun”, so lautete der Claim in einem Werbespot der ungarischen Polizei, der im November des vergangenen Jahres auch in die deutschen Schlagzeilen geriet. Darin zu sehen waren drei junge Frauen, die sich auf eine Party vorbereiten – vortrinken, knappe Kleider und High-Heels anziehen – und sich lasziv vor der Kamera inszenieren. Am Ende des Abends sitzt eine von ihnen mit zerissener Kleidung und verschmiertem Make-Up apathisch dreinblickend in einer dunklen Gasse. Die Botschaft: Wer sexuell belästigt oder vergewaltigt wird, ist selbst dafür verantwortlich.

Dieses „victim blaming“ ist weit verbreitet, betrifft nicht nur Vergewaltigungsopfer, sondern vielerorts auch den Schulalltag und mit ihm minderjährige Mädchen, die geschlechtsspezifischen Dresscodes folgen müssen. Dass Situationen wie die oben beschriebene aber in Wirklichkeit oft unumgänglich und nicht auf ein Detail, ein bestimmtes Kleidungsstück zurückzuführen sind, verdeutlicht Nina Freeman in Freshman Year.

Das autobiografisch gefärbte Point’n’click-Adventure gewährt einen Einblick in die Erfahrungen einer Studienanfängerin, die sich eines Abends mit ihrer besten Freundin zum tanzen verabredet. Als letztere jedoch auf sich warten lässt, gerät die junge Frau in Bedrängnis – und das immer wieder, unabhängig davon, für welches Outfit sie sich anfänglich entscheidet oder wie viel sie trinkt. Handlungsspielraum gibt es zwar wenig, aber gerade die Tatsache, dass die wenigen, zum Teil stark differierenden Optionen immer zum gleichen Ergebnis führen, hinterlässt ein Gefühl der Hilflosigkeit und einen bleibenden Eindruck. Durch die mit schwungvollem Strich gemalten Bilder von Laura Knetzger wirken die an sich statischen Szenen lebendig, Stephen Lawrence Clarks Musik unterstreicht subtil die jeweils vorherrschende Atmosphäre.

Freshman Year ist ein extrem kurzes, rohes Spiel und gerade deshalb so eindringlich. Es ist ein wichtiges Statement zu der weit verbreiteten, irrigen Ansicht, sexuelle Gewalt ließe sich verhindern, indem die potenziellen Opfer ihr Verhalten änderten und nicht die Täter. Eine Erkenntnis, zu der hoffentlich auch die ungarischen Polizeibeamten nach der anhaltenden Kritik an ihrer Videobotschaft gelangt sind.

Crawl

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Ein Kernelement der buddhistischen Lehre ist der Kreislauf des Lebens, eine ständige Abfolge von Tod und Geburt. Alle Geschöpfe unterliegen seiner Wirkung, jedes Dasein ist demnach befristet, wenn auch von unterschiedlicher Dauer. Dem Glauben nach werden Lebewesen durch ihr Karma an diesen Lauf der Dinge gebunden, also durch die Summe ihrer Taten, Gedanken, Gefühle und Begierden. Da das höchste Ziel des Buddhismus, das Verlassen dieses Kreislaufs durch die Erleuchtung, in einem Leben gemeinhin nicht zu erreichen ist, liegt der Fokus vieler Buddhisten darauf, möglichst viel gutes Karma zu sammeln und demnach überwiegend positive Spuren in der Welt zu hinterlassen.

In Crawl wird dieses hehre Prinzip einfach über den Haufen geworfen. Hier bestehen die Spuren ausschließlich aus Blut und alle Beteiligten springen einander möglichst effizient an die Gurgeln, um den Kreislauf des Lebens drastisch zu beschleunigen. Denn in dem Dungeoncrawler gilt es vor allem, den jeweils umherflanierenden Entdecker möglichst schnell seiner irdischen Existenz zu berauben, um dessen Position zu bekleiden. Bis zu drei Spieler_innen können hierzu die Rolle von Geistern einnehmen, die die Hauptfigur immerzu verfolgen und ihr durch das Besitzergreifen von Fallen oder Monstern das Leben zur Hölle machen. Das Resultat ist ein ständiger Wechsel zwischen Jägern und Gejagten, der genretypische Aktionen wie das Aufleveln und Bergen von Schätzen ungleich schwerer und vor allem chaotischer gestaltet.

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S

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Als Kasimir Malewitsch 1913 sein schwarzes Quadrat malte, strebte er nicht weniger als die Befreiung der Kunst von der Gegenständlichkeit an. Und zugleich den Ausdruck von Empfindungen, die sich in dieser geometrischen Form manifestieren sollten, in der Abgrenzung zum Nichts der weißen Leinwand.

In Jóhannes G. Þorsteinssons und Kyle Halladays S wird die blanke Fläche nun zum Raum, in dem sich abstrakte Felsformationen nur durch Schatten abzeichnen, in der das Wasser als einzige organische Komponente in einer kargen Landschaft Leben allenfalls andeutet, und das Quadrat zu meiner einzigen Interaktionsmöglichkeit. Mit einem Druck auf die linke Maustaste kann ich es aus dem Nichts erschaffen und allmählich wachsen lassen, mit der zeitgleichen Betätigung der rechten Maustaste werfen. Durch die geschickte Platzierung der nun greifbaren Form auf Podesten können Portale aktiviert werden, die bisher unerforschte Gebiete zugänglich machen.

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Chronology

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Der Wunsch des Menschen, Ereignisse ungeschehen machen zu können, ist so alt wie die Menschheit selbst. So alt wie der Furz beim Fernsehabend, vergessene Hosen und die deplatzierte Pasta in den Gesichtern geneigter Candlelightdinnerteilnehmer. Was wäre, wenn die Möglichkeit bestünde, einfach die Zeit zu durchreisen und so Einfluss zu nehmen auf bereits Geschehenes, ist eine häufig gestellte Frage, die nun Chronology aus der Sicht eines gescheiterten Erfinders beantwortet.

Eben jener nämlich erwacht inmitten eines riesigen Kraters in einer ausgesprochen unwirtlichen Umgebung, die ihm fremd zu sein scheint. Erst nach und nach kehren Erinnerungsfragmente an seinen Werdegang und damit jene Geschehnisse zurück, die der Verwandlung der einst dicht besiedelten und bunten Region in eine düstere, ruinengespickte Waldlandschaft vorangingen. Angestoßen wird dieser Prozess durch den Fund einer Uhr, die sich als verloren geglaubte Erfindung des Protagonisten und Zeitmaschine entpuppt. Fortan zwischen der gegenwärtigen Zeitebene und der prosperierenden Vergangenheit ständig hin- und herwechselnd, ebnet sich der Greis seinen Weg.

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Year Walk

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Ich liebe Schnee. Schon als Kind konnte ich es kaum erwarten, die ersten, weichen Flocken am Himmel auszumachen und zu beobachten, wie sich sich allmählich auf dem Boden zu einem dichten Teppich verwoben, der sich sanft über die Landschaft legte und allen Schmutz, allen Lärm verdeckte. Dem nur ein leises Knarzen zu entlocken war, während ich Schritt um Schritt meine nun magisch verwandelte Nachbarschaft erkundete und dabei die eisige Winterluft einatmete.

Dieses Knarzen ist es, das mir Year Walk seltsam vertraut erscheinen lässt. Es ist mein einziger, treuer Begleiter in jenem verschneiten Wald, in dem ich mich gleich zu Beginn des Spiels wiederfinde. Als Protagonist mit unkonkreter Biografie, aber offenkundig gebrochenem Herzen, beschließe ich, den Jahreswechsel mit einer alten schwedischen Tradition zu begehen, um den alten Überlieferungen zufolge einen Blick in die Zukunft erhaschen zu können. Der namensgebende “Year Walk”, so will es die Legende, erfordert den Rückzug in eine einsame Hütte, von der aus der Wanderer seinen Weg durch den nächtlichen Wald zur Kirche seines Heimatdorfes bestreiten muss – ein Unterfangen, das nur an wenigen Tagen im Jahr möglich ist und einen vierundzwanzigstündigen Verzicht auf Licht und Nahrung voraussetzt. So laufe ich zunächst ziellos umher, während Entzug und Isolation ihren Tribut fordern: Peu à peu verändert sich die Landschaft um Details, wird das Geräusch meiner Schritte begleitet von einer irrealen Klangkulisse aus sanft erklingender Musik und akustischen Signalen, die ich nicht zu deuten weiß. Bald darauf erscheinen mir mystische Gestalten, deren Absichten sie mir nicht eröffnen und denen ich dennoch bereitwillig folge, in der Hoffnung, das sie mir den richtigen Weg weisen, anstatt mich in die Irre zu führen.

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Fort McMoney

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Dichter Qualm dringt aus den riesigen Schloten der Raffinerien, kriecht zäh über die Minen hinweg. Nicht weit davon entfernt reihen sich die Baracken der Arbeitercamps aneinander, ebenso wie die klotzartigen Wohn- und Geschäftshäuser im Stadtkern, die von starr verlaufenden Straßenzügen umrahmt werden. Mittendrin ein Wellblechverschlag, daran ein Schild mit der Aufschrift „Centre of Hope“. Die kanadische Stadt Fort McMurray wirkt auf den ersten Blick wenig einladend. Und doch kostet ein Haus dort im Schnitt 1.500.000 Dollar.

Die interaktive Dokumentation Fort McMoney gestattet einen tiefen Einblick in eine Region, die über das drittgrößte Ölsandvorkommen der Welt verfügt und deshalb Menschen und Großkonzerne magisch anzieht. Deren Einwohner mindestens 180.000 Dollar im Jahr verdienen und trotzdem auf Sozialleistungen angewiesen sind, da die Preise ebenso in die Höhe schnellen wie die Gehälter. In einer Stadt, in der selbst Pfandsammler mehrere Tausend Dollar im Monat einnehmen, stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Wert des vielen Geldes – und danach, ob bloße Profitmaximierung drastische Eingriffe in das ökologische Gleichgewicht rechtfertigt.

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Shelter

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Langsam schleiche ich durch das Dickicht. Meine Beine schmerzen, ich bin hungrig. Hinter mir ertönt ein leises Jammern, über mir der eindringliche Ruf eines Vogels, dessen riesiger Schatten über der Erde kreist. Abrupt endet das Gehölz, vor mir tut sich eine weite Ebene auf. Der nächste, rettende Unterschlupf erscheint kilometerweit entfernt. Doch es bleibt mir keine andere Wahl, als den Sprint zu wagen, angsterfüllt in den Himmel und zugleich voller Sorge hinter mich zu blicken. Dann, plötzlich: Ein schriller Schrei. Ich bin eine Dachsmutter. Und ich habe soeben eines meiner Jungen verloren.

Im weiteren Spielverlauf sollte sich zeigen, dass diese Verlusterfahrung in Shelter, dem neuen Werk des schwedischen Entwicklerstudios Might and Delight, kein einmaliges Ereignis bleiben würde. Das sich zu Beginn präsentierende Idyll einer kleinen Dachsfamilie, die gemächlich über die Wiesen humpelt sowie hier und da Rüben aus dem Boden rupft, war nicht lange von Bestand und wurde, spätestens nach der ersten Begegnung mit einem scheinbar nimmersatten Raubvogel, durch ein konstantes Bedrohungsszenario abgelöst. Hinter jedem Busch, hinter jedem Baum schienen weitere Fressfeinde zu lauern. Zugleich blieb die Sorge, nicht genug Nahrung zu finden, um alle Sprösslinge ausreichend versorgen zu können, zumal sich die jungen Vierbeiner als wenig kollegial erwiesen, wenn es galt, ihren Hunger zu stillen.

Angesichts dessen ist vor allem eines erstaunlich: Obwohl sich Shelter visuell wie auch gameplaymechanisch als recht simpel erweist, ist es dem Spiel binnen kurzer Zeit gelungen, mich dergestalt in das Geschehen einzubinden, dass ich kontinuierlich mitfieberte. Ich fürchtete, sorgte, kümmerte mich – und war immer wieder am Boden zerstört, wenn eines der Dachsjungen anderen Tieren oder den Naturgewalten zum Opfer fiel, denn ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, für das Wohlergehen dieser Familie verantwortlich zu sein. Allein, an dieser Aufgabe scheiterte ich kläglich.

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