Im Oktober des vergangenen Jahres ging ein leises Raunen durch die Spielelandschaft. Wie ein Schwelbrand verbreitete sich der Mitschnitt einer Spielszene, befeuert auch durch Sonys unbeholfen wirkende Versuche, genau diesen Prozess durch Androhung rechtlicher Schritte zu unterbinden. Doch was war eigentlich der Gegenstand des Anstoßes? Etwas Ungeheuerliches, dessen Anblick Menschen reihenweise in Verzückung oder Schockstarren versetzte, das ob seines skandalösen Naturells diskussionswürdiger kaum sein könnte:
Eine nackte Frau.
Durch die Nutzung einiger Tricks war es jemandem gelungen, die Kameras in Beyond: Two Souls zu rejustieren und so einer ursprünglich cineastisch inszenierten Duschszene die eine oder andere Ganzkörperaufnahme von Protagonistin Jodie zu entlocken. Was für Fans von Ellen Page, die der Spielfigur als reales Vorbild diente, ein besonderer Grund zur Freude gewesen dürfte, warf mit der Frage, ob durch den ungeplanten Nacktaufritt die Persönlichkeitsrechte der Schauspielerin verletzt wurden, ein ganz neues Problem auf. Der beschriebene Fall ist allerdings nicht nur wegen der ungewöhnlichen Debatte um Identität und Menschenwürde in Zeiten des Motion Capturings von Interesse. Bemerkenswert ist auch, dass überhaupt das Bedürfnis entstand, dem Spiel ungeplante Aufnahmen eines Körpers zu entlocken, der nicht einmal Ellens eigener, sondern ein bloßer Platzhalter ist.
Diese Situationen ist nicht neu, tauchten doch mit den ersten bekannteren Heldinnen der Spielegeschichte auch zahlreiche Möglichkeiten auf, sie von der Last ihrer Kleidung zu befreien. Seither sind vor allem „Nude Patches“ ein weit verbreitetes Mittel, um den vermeintlichen Mangel erotischer Anreize in Spielen auszugleichen. Kaum ein Titel muss ohne entsprechende Modifikationen auskommen, solange die Frauenquote nur hoch genug ist, um die mit der Texturerstellung verbundene Mühe adäquat zu entlohnen. Über die Archive entsprechender Websites eröffnet sich eine völlig neue Welt, eine Welt, in der unsterbliche Soldatinnen barbusig über Schlachtfelder rennen und sich schwertschwingende Kriegerinnen furcht- und kleiderlos auf feuerspeiende Drachen stürzen.
Dass solche ungeplanten Eingriffe in die Spielwelten nicht nur absurde Situationen und Immersionseinbrüche, sondern potenziell auch weitreichende Konsequenzen mit sich bringen, zeigte sich am Beispiel des vierten Teils von Bethesdas The Elder Scrolls-Reihe: Nachdem durch einen Nude Patch offenkundig geworden war, dass das Spiel selbst durch entsprechende Modelle und Texturen das Basismaterial für nackte Brüste bereitstellte, änderte das US-amerikanische „Entertainmet Software Rating Board“ prompt dessen Alterseinstufung – und das, obwohl die Figuren in Oblivion selbst gar nicht nackt auftraten. Grund für die Empörung, den Wunsch, die zarten Teenageraugen zu schützen, war also die revolutionäre Erkenntnis, dass Menschen unter ihrer Kleidung nackt sind.
Noch größere Wellen schlug bekanntermaßen der ausgebliebene Versuch von Rockstar Games, auf Sex als alltäglichen Bestandteil der meisten Partnerschaften aufmerksam zu machen. Die nur durch viel Gefriemel überhaupt zugängliche, da bewusst tief im Programmcode verborgene „Hot Coffee Mod“ legte ein eher unfreiwillig-komisches als die Libodo stimulierendes Minispiel offen, das den Protagonisten und seine Partnerin beim holprigen Geschlechtsakt präsentierte – voll bekleidet und mit ebenso hölzernen Gesichtern wie Dialogen. Als naheliegende Konsequenz folgte die de facto-Verbannung des Spiels aus den Ladenlokalen durch die Neueinstufung als Adults Only-Material, die in den Vereinigten Staaten einer Indizierung gleichkommt. Ein Blick auf die erstaunlich kurze Liste der bisher entsprechend bewerteten Titel zeigt, dass in den seltensten Fällen Gewaltdarstellungen als ausschlaggebend angeführt werden, sondern nahezu immer „Nacktheit“ oder „Sex“ als bestimmende Faktoren auftreten. Die Toleranz für Gewalt geht so weit, dass selbst forcierter Sex eher akzeptiert wird als in allseitigem Einverständnis stattfindender, wie GTA: San Andreas veranschaulicht. Denn während der konsensuelle Geschlechtsverkehr der “Hot Coffee“-Szenen aus dem Spiel entfernt werden musste, um das Prädikat “Mature” zu erhalten und das Spiel somit wieder frei verkaufen zu können, blieb die Option, mit Prostituierten zu schlafen und daraufhin das zuvor gezahlte Geld wieder aus ihnen herauszuprügeln, erhalten.
Was bietet sich also an, um trotz des notwendigen Verzichts auf sexuelle Handlungen Erregung zu erzeugen? Vor allem eine Vielzahl deplatzierter Brüste. Auch in Gegenüberstellung zu den mal mehr, mal weniger amateurhaften Modifikationen, wirken Projekte professionellen Ursprungs nicht zwingend überzeugender. Sex und Nacktheit waren und sind selten mehr als erotische Hüllen, die der Vermarktung uninspirierter Spielmechaniken dienen sollen. In ihrer dezenteren Form haben sie längst Einzug in die gesamte Spieleindustrie gehalten: Allerorten locken vorrangig leichtbekleidete Frauen die mutmaßlich nach wie vor dominierende heterosexuelle, männliche Spielerschaft mit Reizen, die keine Sehnsüchte stillen, sondern neue erzeugen.
Dieser erotische Überfluss erfüllt niemals das ihm eigene Versprechen der Befriedrigung. Stattdessen generiert er eine Kurzzeitstimulierung, der eine erneut zu füllende Leere folgt. Dahinter steht ein kapitalistisches System, das diesen Mangel bewusst aufrechterhält, um durch die Kommerzialisierung von Sex – oder dem, was man dafür hält – Produkte vermarkten zu können, die mit Sex an sich nichts zu tun haben. Und das gilt eben auch für Unterhaltungselektronik. Paradoxerweise unterstützen ausgerechnet konservative Sittenwächter diese systematische Entfremdung von natürlicher Sexualität, indem sie durch reaktionäres In-Grund-und-Boden-Skandalisieren vergleichsweise harmloser Inhalte einen erwachsenen Umgang mit dem Thema konsequent unterbinden, aber genau hierdurch den Wunsch nach sexueller Erfüllung aufrechterhalten, der dann über Umwege gestillt werden muss.
Wie absurd dieser Prozess bisweilen anmutet, verdeutlichte die Reaktion des Senders Fox News auf die Sexszenen in Mass Effect, die als „full on digital nudity“ betitelt, in Wirklichkeit nicht mehr zeigen als nackte Rücken, Hintern und sich dezent abzeichnendes, mal hinter einem angehobenen Arm hervorblitzendes Brustfett. Das Argument der Abstumpfung durch die Konfrontation mit dem Gezeigten schoss gerade hier vollkommen am Ziel vorbei, denn zaghaft angedeuteter, einvernehmlicher Sex, der auf zuvor sorgsam aufgebauter Intimität beruht, bietet denkbar wenig Potenzial für Indifferenz. Stattdessen wohnt ihm die Authentizität des Alltäglichen inne, die Konservative wie auch Marketingstrateg_innen zu fürchten scheinen, denn Intimität ist kostenlos zu haben und, zumindest theoretisch, jederzeit verfügbar.
In einer Gesellschaft allerdings, in der schon ein freigelegter Nippel zum Politikum erklärt wird, ist scheinbar kein Platz für einen unaufgeregten Umgang mit nackter Haut, der Nährboden für Pornografie und erotisches Anschauungsmaterial hingegen umso fruchtbarer, schließlich lassen sich Triebe nicht einfach ausmerzen, und so erhalten die Kritik Übenden den Gegenstand ihrer Kritik selbst aufrecht. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass keine Sättigung eintritt, dass ein Bedarf nach immer mehr nackter Haut besteht und plötzlich auch etwas so Banales wie die tägliche Körperwäsche in ein sinnliches Showreel verwandelt wird. Auch wenn sich die Frage stellt, ob nicht gerade eine schamvoll zurückhaltende und doch eindeutig auf körperliche Inszenierung bedachte Kamerafahrt viel mehr sexuelle Spannung aufbaut, schließlich ist gerade die Verhüllung und der damit einhergehende Raum für Fantasie ein essentieller Bestandteil der Erotik.
Sicher beansprucht sie, ebenso wie die Pornografie, zurecht einen Platz nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Medien. Nichts spricht gegen sexuelle Stimuli, selbst wenn sie durch bloße Fleischbeschau generiert werden. Allein, es mangelt an Alternativen. Während sich insbesondere in der Literatur, aber auch im Film, der bildenden Kunst und der Musik eine immense Vielfalt in der Darstellung von Sexualität entwickelt hat, die der tatsächlichen in nichts außer der realen Interaktion nachsteht, verkommt der Sex im Spiel gemeinhin zum Quick Time Event und der nackte Körper zur Projektionsfläche für die eigenen, unterdrückten Gelüste.
Überschaubar ist die Zahl jener Titel, in denen Sex als besondere Form der Intimität oder sich selbst genügender Zeitvertreib dargestellt wird. Stattdessen wird ein Voyeurismus gefördert, der nicht nur bedingt durch seinen Verbleib auf der Oberfläche des künstlichen Körpers, sondern auch durch die starren Rollenbilder, die er dabei propagiert, reichlich unbefriedigend ist. Das mag auch der Schwierigkeit geschuldet sein, einem so komplexen und auf intensiven Emotionen gründenden Prozess mit begrenzten Mitteln gerecht zu werden, nur scheint es, als würden die meisten Entwickler_innen gar nicht erst versuchen, würdevoll an dieser Aufgabe zu scheitern.
Auch wenn zum Beispiel Seduce Me, von Miriam Bellard und Andrejs Skuja eigentlich als blühender Fleck im sexuellen Brachland erdacht, den eigenen Erwartungen nicht im Ansatz gerecht geworden ist, war es immerhin ein zaghafter Versuch, die Enttabuisierung und damit den Fortschritt in der spielerischen Darstellung von Sex voranzutreiben – ein Vorhaben, dem durch Steams wenig liberalen Umgang mit dem Thema ein dicker Riegel vorgeschoben wurde. So steht einer Flut von instrumentalisierter, nackter Haut ein verschämter Umgang mit dem menschlichen Körper gegenüber, dessentwegen selbst die Sims nur verpixelt in ihre Duschen steigen dürfen und durch den überhaupt erst der Gedanke geschürt wird, dass Sequenzen wie diesen irgendein erotischer Anreiz innewohnen könnte. Es stellt sich daher die Frage, ob die erzwungene Frontalsicht auf Jodie Holmes Körper in jedem Fall ein Resultat unterdrückter Sexualität oder nicht doch nur ein Versuch war, aus diesem Kreislauf auszubrechen. Dass auf diesem nackten Leib das digitale Abbild von Ellen Pages Kopf prangte und damit die Würde der Schauspielerin missachtet wurde, verleiht ihm einen ebenso faden Beigeschmack wie die zu weiten Teilen pubertären Reaktionen; doch vielleicht lässt sich dieser Anlass nutzen, um das prüde Menschenbild zu hinterfragen, das als Keimzelle für diesen und andere Nude Patches dient.
Dieser Text ist ursprünglich auf Superlevel.de erschienen. [Achtung: NSFW]