Archive of ‘Game Design’ category

S

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Als Kasimir Malewitsch 1913 sein schwarzes Quadrat malte, strebte er nicht weniger als die Befreiung der Kunst von der Gegenständlichkeit an. Und zugleich den Ausdruck von Empfindungen, die sich in dieser geometrischen Form manifestieren sollten, in der Abgrenzung zum Nichts der weißen Leinwand.

In Jóhannes G. Þorsteinssons und Kyle Halladays S wird die blanke Fläche nun zum Raum, in dem sich abstrakte Felsformationen nur durch Schatten abzeichnen, in der das Wasser als einzige organische Komponente in einer kargen Landschaft Leben allenfalls andeutet, und das Quadrat zu meiner einzigen Interaktionsmöglichkeit. Mit einem Druck auf die linke Maustaste kann ich es aus dem Nichts erschaffen und allmählich wachsen lassen, mit der zeitgleichen Betätigung der rechten Maustaste werfen. Durch die geschickte Platzierung der nun greifbaren Form auf Podesten können Portale aktiviert werden, die bisher unerforschte Gebiete zugänglich machen.

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Chronology

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Der Wunsch des Menschen, Ereignisse ungeschehen machen zu können, ist so alt wie die Menschheit selbst. So alt wie der Furz beim Fernsehabend, vergessene Hosen und die deplatzierte Pasta in den Gesichtern geneigter Candlelightdinnerteilnehmer. Was wäre, wenn die Möglichkeit bestünde, einfach die Zeit zu durchreisen und so Einfluss zu nehmen auf bereits Geschehenes, ist eine häufig gestellte Frage, die nun Chronology aus der Sicht eines gescheiterten Erfinders beantwortet.

Eben jener nämlich erwacht inmitten eines riesigen Kraters in einer ausgesprochen unwirtlichen Umgebung, die ihm fremd zu sein scheint. Erst nach und nach kehren Erinnerungsfragmente an seinen Werdegang und damit jene Geschehnisse zurück, die der Verwandlung der einst dicht besiedelten und bunten Region in eine düstere, ruinengespickte Waldlandschaft vorangingen. Angestoßen wird dieser Prozess durch den Fund einer Uhr, die sich als verloren geglaubte Erfindung des Protagonisten und Zeitmaschine entpuppt. Fortan zwischen der gegenwärtigen Zeitebene und der prosperierenden Vergangenheit ständig hin- und herwechselnd, ebnet sich der Greis seinen Weg.

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Year Walk

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Ich liebe Schnee. Schon als Kind konnte ich es kaum erwarten, die ersten, weichen Flocken am Himmel auszumachen und zu beobachten, wie sich sich allmählich auf dem Boden zu einem dichten Teppich verwoben, der sich sanft über die Landschaft legte und allen Schmutz, allen Lärm verdeckte. Dem nur ein leises Knarzen zu entlocken war, während ich Schritt um Schritt meine nun magisch verwandelte Nachbarschaft erkundete und dabei die eisige Winterluft einatmete.

Dieses Knarzen ist es, das mir Year Walk seltsam vertraut erscheinen lässt. Es ist mein einziger, treuer Begleiter in jenem verschneiten Wald, in dem ich mich gleich zu Beginn des Spiels wiederfinde. Als Protagonist mit unkonkreter Biografie, aber offenkundig gebrochenem Herzen, beschließe ich, den Jahreswechsel mit einer alten schwedischen Tradition zu begehen, um den alten Überlieferungen zufolge einen Blick in die Zukunft erhaschen zu können. Der namensgebende “Year Walk”, so will es die Legende, erfordert den Rückzug in eine einsame Hütte, von der aus der Wanderer seinen Weg durch den nächtlichen Wald zur Kirche seines Heimatdorfes bestreiten muss – ein Unterfangen, das nur an wenigen Tagen im Jahr möglich ist und einen vierundzwanzigstündigen Verzicht auf Licht und Nahrung voraussetzt. So laufe ich zunächst ziellos umher, während Entzug und Isolation ihren Tribut fordern: Peu à peu verändert sich die Landschaft um Details, wird das Geräusch meiner Schritte begleitet von einer irrealen Klangkulisse aus sanft erklingender Musik und akustischen Signalen, die ich nicht zu deuten weiß. Bald darauf erscheinen mir mystische Gestalten, deren Absichten sie mir nicht eröffnen und denen ich dennoch bereitwillig folge, in der Hoffnung, das sie mir den richtigen Weg weisen, anstatt mich in die Irre zu führen.

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Fort McMoney

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Dichter Qualm dringt aus den riesigen Schloten der Raffinerien, kriecht zäh über die Minen hinweg. Nicht weit davon entfernt reihen sich die Baracken der Arbeitercamps aneinander, ebenso wie die klotzartigen Wohn- und Geschäftshäuser im Stadtkern, die von starr verlaufenden Straßenzügen umrahmt werden. Mittendrin ein Wellblechverschlag, daran ein Schild mit der Aufschrift „Centre of Hope“. Die kanadische Stadt Fort McMurray wirkt auf den ersten Blick wenig einladend. Und doch kostet ein Haus dort im Schnitt 1.500.000 Dollar.

Die interaktive Dokumentation Fort McMoney gestattet einen tiefen Einblick in eine Region, die über das drittgrößte Ölsandvorkommen der Welt verfügt und deshalb Menschen und Großkonzerne magisch anzieht. Deren Einwohner mindestens 180.000 Dollar im Jahr verdienen und trotzdem auf Sozialleistungen angewiesen sind, da die Preise ebenso in die Höhe schnellen wie die Gehälter. In einer Stadt, in der selbst Pfandsammler mehrere Tausend Dollar im Monat einnehmen, stellt sich die Frage nach dem tatsächlichen Wert des vielen Geldes – und danach, ob bloße Profitmaximierung drastische Eingriffe in das ökologische Gleichgewicht rechtfertigt.

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Samurai Gunn

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Langsam sinkt sie hinab, die glühende Sonne, und taucht alles in ein blutiges Rot. Das kalte Metall wiegt schwer in meinen Händen. Mein Kontrahent verzieht keine Miene, auch er umklammert den Griff seines Schwertes und harrt geduldig aus. Seit Stunden schon, so scheint es. Das Zirpen der Zikaden wird beständig lauter, hallt durch meinen Kopf, gerät mehr und mehr zu einem treibenden Rhythmus. Dann, plötzlich: Ein Zucken, ein Rascheln – und mein Widersacher nur noch eine Armlänge entfernt. Noch im gleichen Augenblick ziehe ich mein Schwert, hole aus und… tränke das Feld mit dem roten Blut meines nunmehr kopflosen Gegenübers, während die Sonne und mit ihr das gleißende Licht hinter dem Horizont verschwindet.

Samurai Gunn weckt Erinnerungen an meine frühe Jugend, in der ich etwa 87,5 Prozent meiner Freizeit vor einem großen, schwarzen Röhrenfernseher vebrachte. Dessen Besitzer erkannte in meiner Begeisterung für japanische Animationsserien wohl ein gewisses Potenzial für innerfamiliäre Interessensüberschneidungen, und zückte eine VHS-Kassette: „Okami – Das Schwert der Rache“. Neben fliegenden Köpfen und meiner tobenden Mutter brauchte es nicht viel mehr, um mich von den Vorzügen der Samurai-Filme zu überzeugen, also schaute ich mit meinem Vater mehr als nur einmal dem Protagonisten dabei zu, wie er dank der Hilfe seines kleinen Sohnes und eines waffengespickten Kinderwagens im Laufe seines Rachefeldzugs so manchen Gegner kunstvoll enthauptete.

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Morphopolis

Zeitung, Staubsauger, Fliegenklatsche: Die Mittel der heimischen Insektenbekämpfung sind vielfältig. Allerorten wird Kreuchendem und Fleuchendem, Schleichendem und Schwirrendem der Krieg erklärt und der ungebetene Besuch für gewöhnlich nicht nur aus der eigenen Wohnung, sondern zugleich auch aus dem Leben befördert.

Morphopolis, ein Hidden-Object-Game des Entwicklerteams Micro Macro, erscheint demgegenüber wie ein Plädoyer für ein friedvolleres Miteinander, versetzt es mich doch in die Rolle eines Insekts und in dessen bunten Mikrokosmos. Beginnend als Blattlaus, schlüpfe ich in immer größere Körper und eröffne mir neue Perspektiven auf die mich umgebende, in grellen Farben erstrahlende Flora. Blumenstängel erscheinen wie Wolkenkratzer, Blätter als überdimensionierte Brücken, jede Szene als übersättigte Variante jenes mysteriösen Paralleluniversums, das sich zu offenbaren scheint, wenn man eine Lupe auf ein Stück Wiese richtet.

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9.03m

9.03m
Am 11.03.2011 um 14.47 Uhr Ortszeit erschüttert ein Erdbeben der Stärke 7,0 auf der JMA-Skala die Region um die japanische Stadt Fukushima, kurz darauf bricht ein Tsunami über die Küste der Präfektur Tōhoku herein. 210.000 Menschen sind von der Katastrophe unmittelbar betroffen, 20.000 von ihnen sterben, die 23.000 im havarierten Atomkraftwerk Fukushima Daiichi eingesetzten Arbeiter werden erhöhten Radioaktivitäsdosen ausgesetzt, ein Drittel von ihnen stark verstrahlt. Hunderttausende Tiere verenden.

Menschen erfassen gern Zahlen, unsere Nachrichten sind voll davon. Und doch verlieren sie umso mehr an Relevanz, je größer sie geraten, denn niemand ist mehr dazu in der Lage, Einzelschicksale zu verfolgen, wenn deren Zahl ins Unermessliche wächst. So geraten die den Nachrichtenticker dominierenden, beständig wechselnden Ziffern schnell zu etwas Irrealem, und die hinter ihnen stehenden Schicksale zu bloßen Randnotizen eines Großereignisses.

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Daymare Town 1-4

Daymare-Town-4Feine, schwarze Linien auf einfarbigem Grund und eine reduzierte Klangkulisse – mehr braucht es nicht, um eine ganze Welt zu erschaffen. Das stellt der selbsternannte Spielearchitekt Mateusz Skutnik mit seiner nunmehr vier Kapitel umfassenden Point’n’Click-Reihe Daymare Town unter Beweis. Aus Skizzen werden Szenen, und aus den Szenen erwächst eine Geschichte, so vage sie auch erscheinen mag. Wer der Protagonist ist, woher er stammt und wie er in die Stadt gelangt ist, all das bleibt ungewiss. Skutnik, der auch als Comicbuchautor arbeitet, sagte in einem Interview, dass interaktive Geschichten auf Basis nur spärlich eingeworfener Hinweise im Idealfall in den Köpfen der Spieler_innen entstehen und somit aus der für (Bilder-)Bücher typischen, narrativen Geradlinigkeit ausbrechen sollten.

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Shelter

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Langsam schleiche ich durch das Dickicht. Meine Beine schmerzen, ich bin hungrig. Hinter mir ertönt ein leises Jammern, über mir der eindringliche Ruf eines Vogels, dessen riesiger Schatten über der Erde kreist. Abrupt endet das Gehölz, vor mir tut sich eine weite Ebene auf. Der nächste, rettende Unterschlupf erscheint kilometerweit entfernt. Doch es bleibt mir keine andere Wahl, als den Sprint zu wagen, angsterfüllt in den Himmel und zugleich voller Sorge hinter mich zu blicken. Dann, plötzlich: Ein schriller Schrei. Ich bin eine Dachsmutter. Und ich habe soeben eines meiner Jungen verloren.

Im weiteren Spielverlauf sollte sich zeigen, dass diese Verlusterfahrung in Shelter, dem neuen Werk des schwedischen Entwicklerstudios Might and Delight, kein einmaliges Ereignis bleiben würde. Das sich zu Beginn präsentierende Idyll einer kleinen Dachsfamilie, die gemächlich über die Wiesen humpelt sowie hier und da Rüben aus dem Boden rupft, war nicht lange von Bestand und wurde, spätestens nach der ersten Begegnung mit einem scheinbar nimmersatten Raubvogel, durch ein konstantes Bedrohungsszenario abgelöst. Hinter jedem Busch, hinter jedem Baum schienen weitere Fressfeinde zu lauern. Zugleich blieb die Sorge, nicht genug Nahrung zu finden, um alle Sprösslinge ausreichend versorgen zu können, zumal sich die jungen Vierbeiner als wenig kollegial erwiesen, wenn es galt, ihren Hunger zu stillen.

Angesichts dessen ist vor allem eines erstaunlich: Obwohl sich Shelter visuell wie auch gameplaymechanisch als recht simpel erweist, ist es dem Spiel binnen kurzer Zeit gelungen, mich dergestalt in das Geschehen einzubinden, dass ich kontinuierlich mitfieberte. Ich fürchtete, sorgte, kümmerte mich – und war immer wieder am Boden zerstört, wenn eines der Dachsjungen anderen Tieren oder den Naturgewalten zum Opfer fiel, denn ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, für das Wohlergehen dieser Familie verantwortlich zu sein. Allein, an dieser Aufgabe scheiterte ich kläglich.

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Sprite Graphics – Explorer

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